Patrick Tirler

Willkommen auf meiner Seite! Ich freue mich, hier einige meiner Erlebnisse zu teilen. Viel Spass!

Jamyang Ri – Rangtik Tokpo (Indien)

Ein gescheiterter Erstbegehungsversuch an der damals noch unbestiegenen Wand auf dem Vorgipfel des Jamyang Ri (5600m) in dem „Rangtik Tokpo“ Tal in der indischen Region Ladakh.

11 – 15.07.2023

Mit Moritz Sigmund

Hoffnung gegen Erwartung!

Bilder der prominenten Granitwände des Jamyang Ri (5800m) und Chanrasrik Ri (6085m) haben uns nach Ladakh ins Rangtik Tokpo Tal in Indien gelockt. Umgeben von mehreren 6000 Meter hohen Gipfeln strahlen diese zwei besonders auffallenden Wände durch ihre Steilheit eine beeindruckende Macht aus. Nur eine Handvoll Kletterexpeditionen haben dieses wunderschöne Tal für sich entdeckt und daher sind noch beide Wände unbestiegen. Die sieben erschlossenen Kletterrouten des Tals folgen den einfachsten Linien auf den Gipfeln der Berge und berühren nicht ansatzweise das gewaltige Kletterpotential auf bestem Granit.

Die Anreise führt uns von der Hochgebirgsstadt „Leh“, über zwei Pässe auf nicht ganz 5000m in das kleine, abgeschiedene Bergdorf „Tungri“. Die etwa 200 Einwohner empfangen uns mit einer herzlichen Einladung zum Essen, Trinken und Tanzen auf einer Hochzeit und wir können uns eine freundschaftlichere Aufnahme kaum vorstellen. Nach einigen Tagen in Tungri, die sich wie ein Traum auf einem anderen Planeten anfühlen, begleiten uns 23 gut gelaunte Träger auf den sechsstündigen Fußmarsch in das Seitental, wo wir auf 4900m Meereshöhe unser Basislager errichten. Unsere drei einheimischen Freunde „Lobzang“, „Lobzang“ und „Sonam“ werden uns die nächsten drei Wochen Gesellschaft leisten und uns mit leckerer einheimischer Kulinarik vom Feinsten versorgen.

Gleich an den ersten zwei Tagen legt uns ein ungewöhnliches Wetterphänomen einen halben Meter Schnee vor die Zeltwände und wir sind gezwungen, uns an die unerwarteten Bedingungen anzupassen. Glücklicherweise bleibt die Nordwestwand des Jamyang Ri aufgrund ihrer Steilheit gänzlich vom Schneefall verschont und Moritz und ich können unser erstes Ziel in Angriff nehmen. Eine riesige Verschneidung geschmückt mit mehreren Rissen, ziert das obere Drittel der Wand und steht für den Inbegriff einer „Kingline“ durch die etwa 500m hohe jungfräuliche Wand. Das mittlere Drittel besteht aus blanken, überhängenden Platten, durch denen wir uns nur mit viel Optimismus und Spekulation eine kletterbare Linie von Felsschuppe zu Felsschuppe erhoffen können. Das untere Drittel ist wieder gut strukturiert und wir schätzen den Zeitaufwand für diesen Teil auf einen Tag. Wie üblich, auf den großen Bergen des Himalayas, sollten wir uns wieder einmal gehörig verschätzen.

Am 11. Tag der Reise können wir endlich zum ersten Klettertag aufbrechen und uns gelingen an diesem Tag die ersten drei der vermeintlich leichten Einstiegsseillängen. Der Fels ist kompakt und steil und verlangt uns klettertechnisch und moralisch alles ab. Wir kommen nur halb so weit wie geplant und können nach den drei Seillängen im 8ten und 9ten Schwierigkeitsgrad nur erahnen, was uns auf der restlichen Route erwarten wird. Total erschöpft seilen wir ab und kehren ins Basislager zurück, wo uns bereits ein Dreigängemenü erwartet.

Am nächsten Tag ziehen wir uns an den fixierten Seilen hoch und erreichen schnell den Umkehrpunkt vom Vortag. Ich habe leichte Kopfschmerzen und fühle mich überhaupt nicht erholt. Daher begnüge ich mich an diesem Tag mit einer achtstündigen Sicherungseinheit. Zum Glück ist Moritz fit und motiviert. Der Riss, dem wir folgen, ist leicht überhängend und wäre ein Traum für jeden Kletterer. Doch an Freiklettern ist im Moment leider nicht zu denken. Den Schwierigkeitsgrad schätzen wir zwischen 8a und 8b, was unsere Linie schon in den vermeintlich einfachen Anfangslängen zu einem der weltweit schwierigsten alpinen Freikletterproblemen auf dieser Meereshöhe machen würde.

Meter für Meter arbeitet sich Moritz technisch mithilfe einer sehr kreativen Verwendung von Friends, Keilen, Ballnuts und Messerhaken nach oben. Ich befreie im Nachstieg den Riss von losen Schuppen und versuche die Freikletterzüge zu erfühlen. Der Zeitaufwand für jede Seillänge ist enorm und wir schaffen an diesem Tag nur zwei Seillängen. In was für ein gewaltiges Projekt sind wir hier geraten, denke ich mir. Uns ist inzwischen klar, dass wir die restlichen drei Wochen für die Fertigstellung dieser Route benötigen werden und nicht, wie anfangs gedacht, nur drei Tage.

Nach einem erholsamen Pausetag im Basislager haben wir unser Portaledge, sowie Wasser und Essen für drei Tage im Gepäck, um uns den täglichen Auf- und Abstieg ins Basislager zu ersparen. An diesem Tag gelingt uns Seillänge 6, ein wunderschöner Riss, der wohl in jedem Klettergarten ein Klassiker wäre. Nach dieser Seillänge erreichen wir den Punkt, welcher das logische Ende des ersten Drittels der Wand markiert. Dort hängen wir unser Portaledge mit dem Überzelt auf und gönnen uns eine Pause mit Chapati (Fladenbrot), Sottilette und illegal importierten Kaminwurzen. Das große Fragezeichen unserer Linie steht nun bevor und wir hoffen inständig darauf, dass die so genialen ersten sechs Seillängen nicht in einer Sackgasse enden müssen.

Schon beim Vorsteigen der letzten Seillänge erhaschte ich einige Blicke in die Wand, die sich über uns auftürmt. Die Wand ist steil und erschreckend blank. Die wenigen Risse sind oft geschlossen und teils mit losen Felsschuppen umrundet. Ich bekam sofort das Gefühl, dass sich meine realistischen Erwartungen gegen meine optimistischen Hoffnungen durchsetzen könnten. Etwa 100 Meter über uns können wir die große Verschneidung mit den erlösenden Rissen sehen, doch der Weg dahin wirkt unendlich weit und hart.

Die kleine offene Verschneidung, die direkt an unserem Standplatz beginnt und weiter oben in einer unerkennbaren Mischung aus glatten Platten, dünnen Felsschuppen und einzelnen Rissen mündet, soll den Einstieg in das zweite Drittel der Wand bilden. Moritz ist nach wie vor optimistisch und bekräftigt mehrmals seinen Glauben, dass wir genügend Risse zum Absichern finden werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass er durch bloßes Ignorieren sämtlicher Hindernisse doch noch eine Lösung findet. Ich hoffe auf einen unerwarteten Durchbruch und lasse Moritz vorsteigen.

Als erste Sicherung schlägt Moritz mit dem Hammer einen kleinen Keil zwischen zwei hohle Schuppen in der Verschneidung. Etwas darüber platziert er einen winzigen Friend. Als er daran zieht, bewegen sich beide Seiten des Risses. Erschrocken und mit der Angst eines bevorstehenden Sturzes ins Gesicht geschrieben, lässt er ihn unberührt hängen. Etwas eingeschüchtert, aber trotzdem mit konzentrierter Miene, steigt er mit vollem Gewicht in die Trittleiter, die an einem weiteren Microkeil hängt, und richtet sich auf. Langsam nimmt er einen Haken vom Gurt, steckt ihn in eine schmale Felsritze und setzt zum Hammerschlag an. Zack! Der ganze Fels vibriert, die Keile brechen aus und Moritz fliegt mit einem Fuß in der Trittleiter am Portaledge vorbei.

Der Sturz war ungemütlich, irgendwie erwartet, aber doch überraschend. Nach einer kurzen Pause versucht Moritz es erneut über einen Riss außerhalb der Verschneidung. Der erste Messerhaken scheint zu halten. Beim Schlagen eines zweiten Hakens einen Meter darüber rutscht der erste Haken einige Zentimeter aus dem Riss heraus. Mit seiner ganzen Fingerkraft krallt er sich an irgendwelchen Felsleisten fest und verhindert einen krachenden Sturz gerade ins Portaledge.

Demoralisiert sitzen wir im Portaledge. Zum Handbohrer wollen wir nicht greifen, denn die Wand nach den ersten Metern sieht nicht viel einfacher aus und wenn wir jetzt schon einen Bohrhaken brauchen, würden noch viele folgen. Eine mühsame Arbeit, die wohl mehrere Tage in Anspruch nehmen würde und auf der wir überhaupt keine Lust haben. Die vier Bohrhaken in den ersten sechs Seillängen, die jeweils 20 Minuten vollste Kraftanstrengungen erforderten, haben uns schon gereicht. Langsam realisieren wir, dass die Wand gewonnen hat. Wir gestehen uns die Niederlage ein und entscheiden uns die Route aufzugeben.

Etwas traurig genießen wir die Sonnenuntergangsstimmung auf unserem Portaledge, hoch oben über dem schneebedeckten Gletscher und umringt von all den 6000ern. Obwohl wir noch genügend Tageslicht fürs Abseilen übrighätten, nutzen wir die einzigartige Gelegenheit, um eine Nacht in dieser besonderen Umgebung zu verbringen und seilen erst am nächsten Tag ab. Der kleine rote Friend, der etwa 4 Meter über unserem höchsten Standplatz hängt, bleibt gezwungenermaßen zurück und symbolisiert unseren Willen, die Tour auf unserer Art und Weise zu vollenden. Die nächsten, die diesen Punkt erreichen, haben ihn sich verdient und können unsere volle Unterstützung auf ihrer Seite wissen. Der Wert dieser genialen Kletterlinie für die Alpingemeinschaft übersteigt den Wert des verlorenen Friend bei Weitem und wir können nur hoffen, dass irgendwann jemand die Fähigkeiten besitzt, die Route zu vollenden.

Geschrieben am 16/07/2023 im Basecamp Rangtik Tokpo

Patrick Tirler

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