Patrick Tirler

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“Сахарова” – Pik Odessa (4800m) – Kirgistan

06.08.2022 bis 10.08.2022mit Moritz Sigmund

Im Sommer 2022 reisen Moritz Sigmund, Moritz Plattner, Elisabeth Lardschneider, Hannes Niederwolfsgruber, Alexander Obertimpfler und ich nach Kirgistan ins Karavshin-Gebiet. Nach einer zweitägigen Anreise mit alten sowjetischen Jeeps über steile, ausgesetzte Passstraßen und einer achtstündigen Wanderung mit Eseln und Pferden erreichen wir das Basislager im KaraSu-Tal. Auf der Suche nach Abenteuern erkunden wir die gewaltigen Granitwände, von denen wir kaum Informationen besitzen. Die folgende Geschichte erzählt von einem Versuch der Route „сахароба“ in der gewaltigen Westwand des Pik Odessa.

Unsere Finger bluten und schmerzen bei jeder Berührung. Moritz und ich sind gerade von unserem erfolgreichen Freikletterversuch, unserer Erstbegehung „Ak-Kalpak“ am Little Asan, zurück ins Basecamp gekommen und lassen uns von unserer kirgisischen Köchin das Abendessen servieren. Es wäre höchste Zeit für einen Pausentag, doch in fünf Tagen reisen wir ab und wir haben unsere Erwartungen noch lange nicht erfüllt. Per Satellitentelefon versuchen wir Jana und Felix, die uns mit Wetterinformationen versorgen, anzurufen. Doch wir erreichen niemanden und beschließen, am nächsten Morgen einfach zu starten und auf gutes Wetter zu hoffen. Die Liste der möglichen Ziele wäre lang, doch wir entscheiden uns für das herausforderndste. Bereits seit dem ersten Tag im KaraSu-Tal leuchtet uns die gewaltige Westwand des Pik Odessa in die Augen. Der Gipfel befindet sich auf 4800 Meter und ist von den Niederschlägen der letzten Tage leicht angezuckert und vereist. Auf allen Seiten fallen die Wände steil ab und machen den Gipfel zu einem der begehrtesten und angesehensten Ziele der russischen Bergsteiger. Die Westwand zählt mit ihren 1300 Höhenmetern wohl zu den größten und schönsten BigWalls der Welt und wird nur selten begangen.

In unserer Routensammlung finden wir ein Wandbild mit acht eingezeichneten Routen. Alle Routen wurden von russischen Kletterern in technischer Kletterei erstbegangen und freie Wiederholungen sind uns nicht bekannt. Ein russischer Kletterer erzählt uns von der Route „сахароба“ im linken Wandteil, die vielleicht freikletterbar ist. Sie wurde 1994 erstbegangen und bis auf den Steilheitsangaben der einzelnen Wandteile haben wir keine brauchbaren Informationen über die Route. Unsere ungebremste Motivation, erste Erfahrungen in solch riesigen Wänden zu sammeln, lässt uns die Müdigkeit der letzten fünf Klettertage einfach vergessen und wir planen, die nächsten vier Tage am Odessa zu verbringen. Um uns wenigstens ein bisschen Erholung zu gönnen, schlafen wir bis 9:00 Uhr und packen dann gemütlich unsere Haulbags. Gegen Mittag brechen wir mit jeweils 30 Kilo schweren Rucksäcken vom Basecamp auf. Der Zustieg bringt uns ans Limit und quält uns für ganze drei Stunden. Kurz vor dem Einstieg müssen wir noch einen steilen Gletscherhang überwinden. Da wir keine Steigeisen dabei haben, müssen wir in mühsamer Arbeit Stufen in den harten Schnee treten. Am Einstieg angekommen, hoffen wir das Anstrengendste geschafft zu haben. Doch wir sollten uns täuschen.

Da in den letzten Jahren der Gletscher stark zurückgegangen ist, beginnt die Wand nun viel tiefer als vor 20 Jahren. Wir wählen die logische Linie und hoffen, irgendwann auf die Originalroute zu treffen. Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu und wir beeilen uns, um heute noch einige Seillängen hinter uns zu bringen. Der 140-Liter-Haulbag, in dem sich unser gesamtes Material, Essen und Wasser befindet, ist ungefähr 40 Kilo schwer und lässt sich nur mit größten Kraftanstrengungen nachziehen. Bereits in der zweiten Seillänge kommt es zum ersten Schreckmoment. Ich quere 40 Meter nach links, wo ich die Originallinie vermute, und baue dort den Stand. Ich schreie Moritz zu, er solle den Haulbag von unten nachsichern, um ein unkontrolliertes Pendeln zu verhindern. Doch er unterschätzt die Kraft des Haulbags und er entgleitet ihm aus der Hand. Mit voller Wucht pendelt unser gesamtes Material über die Wand und kracht mit einem lauten Knall in eine Verschneidung. Ich befürchte schon das Schlimmste, doch bis auf ein paar Kratzern scheint nichts kaputt gegangen zu sein.

In der vierten Seillänge finde ich zu unserem Glück einen zuverlässigen Bohrhaken, bei dem ich mit einem Friend und einem Keil einen zufriedenstellenden Standplatz für die Nacht bauen kann. Es ist bereits dunkel, als wir unser Portaledge mit dem Überzelt aufbauen. Der Platz ist alles andere als ideal und wir sind viel zu erschöpft, um das Portaledge perfekt einzustellen. So kommt es, wie es kommen muss. Das Portaledge neigt sich über Nacht, sodass wir am nächsten Morgen 45° geneigt in den Seitenwänden liegen. Ich habe fast gar nicht geschlafen und die Wunden unter meinen Fingernägeln schmerzen wie verrückt. Sobald es hell wird, frühstücken wir in den Schlafsäcken unser Müsli mit aufgekochtem Wasser und machen uns dann bereit zum Weiterklettern.

Kein Ende in Sicht

Die Kletterei ist viel schwieriger als gedacht. Wir folgen unserem Instinkt und klettern immer den leichtesten Weg entlang. Ab und zu finden wir einen schaurigen alten 4mm Bohrhaken als Zwischensicherung, ansonsten klettern wir von Schuppe zu Schuppe, wo wir meist eine Zwischensicherung unterbringen können. Der Granit ist extrem kompakt und fordert technische Reibungskletterei bei langen Runouts. Die Schwierigkeiten bewegen sich um den Grad 7a und alle Stellen sind zwingend frei zu klettern. Wir bekommen schnell zu spüren, dass die Erstbegeher nicht, wie erwartet, kompromisslose Technokletterer waren, sondern bereits mit modernen Sicherungsmitteln freikletterten. Zumindest ist die Linie ziemlich logisch und wir können alle Stände, die meist mit einem relativ vertrauenswürdigen Bohrhaken versehen sind, sofort finden. Unser großes Problem ist der Haulbag. Ständig verhängt sich der fette Sack an den kleinsten Felskanten und der Nachsteiger ist durchgehend damit beschäftigt, den Haulbag mit Abseil- und Pendelmanövern zu lösen. So kommen wir nur sehr langsam voran und schaffen bis zur Dämmerung 14 Seillängen. Kurz unter der Wandhälfte bauen wir erneut unser Portaledge auf. Die Wand ist nun fast senkrecht und somit hängt das Portaledge deutlich stabiler. Der Schmerz an meinen Fingern ist nun fast unerträglich. Beim Klettern schaffe ich es alles zu ignorieren, doch das Hantieren mit dem Gaskocher wird zur Qual. Wir haben unser Ziel, den Gipfel zu schaffen, jedoch noch klar vor Augen und sind zuversichtlich es zu schaffen.

An den Gedanken, den Haulbag noch einen Tag mit uns mitzuschleppen, wird uns schlecht. Deshalb entscheiden wir, am nächsten Tag ohne Haulbag und Portaledge weiterzuklettern. Bis zum Gipfel sind es noch ungefähr 20 Seillängen. Über dem Portaledge wird die Wand leicht überhängend und wir erwarten uns eine Bohrhakenleiter, auf der wir schnell weiterkommen. Somit sollten wir es bis zum Gipfel schaffen, um uns anschließend über die Route zum Portaledge abseilen zu können. Wir wissen, dass dieser Plan nur diese eine Chance vorsieht, denn eine Nacht ohne Biwakmaterial auf über 4000 Meter würden wir nicht überleben. Zudem müssen wir genügend Zeit fürs Abseilen zurück zum Portaledge einplanen, da wir wahrscheinlich die Abseilstände selbst einrichten müssen. Wir bleiben optimistisch und halten unsere Fast-and-Light-Taktik für erfolgversprechend.

Über Nacht kommt ein starker Wind auf und wir fühlen uns in unserem Portaledge wie auf einem Boot auf hoher See. Unter uns pfeift die Wand 600 Meter ohne Unterbrechung in die Tiefe und über uns erhebt sich die mächtig überhängende Headwall. Bei Tagesanbruch stopfen wir uns ein paar Müsliriegel in die Jackentaschen und hängen uns eine Wasserflasche an den Gurt. Es ist extrem kalt. Ich bin froh um meine lange Unterwäsche und starte voll eingepackt in die erste Seillänge. Schon nach einigen Metern bemerke ich mit Schrecken, dass ich die Tritte unscharf sehe. Ich muss wohl eine meiner Kontaktlinsen verloren haben. Ich beende die Seillänge mit nur einem Auge, eiskalten Fingern und eingefrorenen Zehen und sage Moritz, er solle mir die Brille mitnehmen.

Wir stehen nun unter einem unüberwindbaren Dach und queren über Untergriffschuppen diagonal nach rechts. In der dritten Seillänge verspürt Moritz plötzlich einen nicht aushaltbaren Druck im Darm, während ich 30 Meter weiter rechts nach einem Weiterweg suche. Ich schaffe es gerade noch, mich an einem Friend zu hängen, da sehe ich schon eine braune Suppe vom Hängestand im freien Fall in die Tiefe stürzen. Ein eiskalter Windstoß vertreibt mir das Grinsen aus dem Gesicht und ich sehe mich um. Weit und breit keine Begehungsspuren in Sicht und das Dach thront weiterhin über unsere Köpfe. Ich traversiere weiter nach rechts und bemerke plötzlich einen Bohrhaken, wo ich Stand baue. Zitternd klettert Moritz nach und flucht ununterbrochen darüber, dass er seine Zehen trotz gestrickter Wollsocken in den Kletterschuhen nicht spüren kann. Er bittet mich weiter vorzusteigen und so peile ich das Dach über mir an, wo ich einen dünnen Riss entdecke. Bis zu diesem Moment bin ich alles freigeklettert, doch jetzt überlege ich keine Sekunde mehr und greife in den Friend, um mich über das Dach zu hieven. Ich versenke drei Friends, binde sie zu einem Stand zusammen und flüchte mit meinen kalten Fingern sofort in die warmen Handschuhe. Weit oben erblicken wir eine rote Schlinge. Wir sind auf dem richtigen Weg.

Tag 3: Wir lassen alles zurück und wollen es zum Gipfel schaffen.

Ohne viel Zeit zu verlieren starte ich sofort in die nächste Länge. Die Höhenluft macht sich bereits bemerkbar und ich muss einen Gang zurückschalten. Kurz darauf höre ich einen Fluch von Moritz und sehe noch aus den Augenwinkeln seinen Kletterschuh in die Tiefe segeln. Verdammt, die Vorsteigerrolle werde ich heute nicht mehr los.

Wir sind nun im steilsten Bereich der gesamten Wand angelangt und die Kletterei wird immer schwieriger. Nach zwei weiteren Seillängen erblicken wir einen Bohrhaken mitten in einer glatten Platte hoch über unserem Stand. Ich misstraue dem Bohrhaken sofort, da die Linie unlogisch wirkt. Da jedoch die logische Linie ebenfalls schwierig ausschaut und zudem etwas mehr überhängt, wähle ich den Weg zum Bohrhaken. Ich kämpfe mich über die schlecht absicherbare Platte und muss schließlich einsehen, dass ich in eine Sackgasse gelandet bin. Ich ärgere mich darüber, meinen Instinkt ignoriert zu haben und ziehe mich zurück. Ich seile mich am Bohrhaken einige Meter ab und pendle so weit wie möglich nach rechts. Ich setze einen schlechten Friend und hänge dort meine provisorische Trittleiter ein. Gerade als ich meine Finger in einen dünnen Riss stopfen will, sehe ich wie sich der Friend bewegt, und im nächsten Moment befinde ich mich schon in der Luft. Ich pendle den ganzen Quergang zurück und schlage hart auf, doch glücklicherweise ist nochmal alles gut gegangen. Beim nächsten Versuch greife ich voll in die Technotrickkiste. Mit Mikrokeilen und winzigen Friends gelingt es mir, mich über die Stelle zu schummeln. Auch die nächste Seillänge lässt sich nur mit einer extrem schwierigen Kombination aus Freiklettern und Technoklettern bewältigen. Ich muss sogar einen Nagel schlagen, um zum nächsten Stand zu gelangen. Dort finde ich einen alten Bohrhaken, der unsere Linienwahl bestätigt, und freue mich nach all den Hängeständen endlich mal wieder auf den Füßen stehen zu können.

Wir befinden uns mittlerweile auf 4400 Meter und noch zirka 400 Meter unter dem Gipfel. Die Wand wird nun immer flacher, doch es ist bereits 15:00 Uhr und immer noch arschkalt. Ich bin mental und physisch total am Ende und habe bereits alle Hoffnungen aufgegeben, es heute noch auf dem Gipfel zu schaffen. Auch von Moritz kommt kein Motivationsschub mehr und ein Notbiwak schließen wir erneut ohne Diskussion aus. Wir entscheiden abzuseilen.

Die Ostseite von Usen und Asan

Traurig darüber, nach den ganzen Anstrengungen so kurz vor dem Ziel aufgeben zu müssen, beginnen wir mit dem Abseilmanöver. Glücklicherweise reicht unser Seil immer von Bohrhaken zu Bohrhaken. Wir verstärken die 4mm-Bohrhaken mit unseren Haken und lassen einige unserer Schlingen zurück, doch im Großen und Ganzen verläuft der Rückzug viel leichter als erwartet.  Etwa drei Stunden vor Sonnenuntergang erreichen wir unser Portaledge, wo wir uns sofort in unsere Schlafsäcke verkriechen. Mit dem Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, essen wir unser restliches Essen auf und schlafen bald darauf ein.

Tag 4: Beim Abseilen

Am nächsten Tag bauen wir alles ab und stopfen das ganze Material in den Haulbag. Eine lange Abseilaktion steht uns nun bevor. Glücklicherweise sind wir nicht die ersten, die über die Wand abseilen, und so finden wir einige sehr spärlich eingerichtete Abseilstellen vor. Kurz vor dem Boden müssen wir in 30-minütiger, extrem mühsamer Handarbeit mit dem Handbohrer einen Bohrhaken in den harten Granit schlagen. Beim letzten Abseiler bleibt uns das Seil hängen und ich muss die Seillänge nochmal klettern. Unsere gesamte Energie ist nun aufgebraucht.

Moritz beim Handbohren

Wir kämpfen uns über den Gletscher und staunen nicht schlecht, als wir meine Prusikschlinge und den Kletterschuh am Wandfuß finden. Nach einer kurzen Pause schultern wir von Neuem unsere Haulbags und machen uns bereit für den Abstieg. Nach etwa einer Stunde treffen wir auf Obi, der uns entgegen gekommen ist, um uns mit Snickers und Riegel zu versorgen. Wir fallen über die Snacks her wie wilde Tiere und freuen uns nach vier Tagen in der Wand, wieder ein vertrautes Gesicht zu sehen. Langsam lässt die Anspannung nach und verwandelt sich in Müdigkeit. Wir sammeln nochmals unsere letzten Reserven und schleppen uns ins Basecamp, wo wir von allen herzlich erwartet werden. Was für eine Aktion!

Beim Abstieg treffen wir Obi, der uns entegegen gekommen ist.

Am nächsten Abend lassen wir den letzten Tag im KaraSu-Tal bei einem Lagerfeuer gemütlich ausklingen. Die russische Seilschaft, die ebenfalls am Odessa unterwegs war, setzt sich zu uns und wir verfallen in ein sehr interessantes Gespräch. Sie erzählen uns, dass wir sehr knapp an dem Geschwindigkeitsrekord für die Odessa Westwand dranwaren und, dass eine gute Seilschaft normalerweise sieben Tage für den Gipfel benötigt. Wir lachen über unsere sehr optimistische Zielsetzung, die Route in dreieinhalb Tagen zu schaffen und sind trotz der frühzeitigen Umkehr stolz auf unsere Leistung. Leider ist unsere Reise nun zu Ende, doch es wird nicht die letzte sein.

Danke an allen für die schöne Zeit!

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